Jenseits des Visuellen: Eine inklusive Architekturgeschichte

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Anna Myjak-Pycia

Dieses Projekt erarbeitet eine Architekturgeschichte, welche sich auf das Nicht-Sichtbare von Innenräumen des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA konzentriert. Dazu werden die materiellen wie technologischen Aspekte von Innenräumen untersucht und wie jene Aspekte von der menschlichen Wahrnehmung erfasst werden: die Empfindung von Geräuschen, Berührungen, Gerüchen, Wärme und Kälte, Feuchtigkeit, frischer und stickiger Luft, aber auch die Wahrnehmung von Bewegung, Komfort und Müdigkeit. Diese Empfindungen sind entweder nicht-sichtbar oder haben eine sichtbare Komponente, so zum Beispiel Berührung oder Bewegung, die zwar sichtbar sind, bei der aber jener Aspekt nicht essenziell ist. Das Projekt entwickelt die These, dass die nicht-sichtbaren Aspekte, auch wenn sie ungenügende Anerkennung finden, grundlegend für die Erfahrung des architektonischen Innenraumes sind. Dabei wird die tradierte Konzeptualisierung des Innenraums der Architektur – als hauptsächlich Piktorales, Bildähnliches, als Objekt der visuellen Kontemplation – gezielt umgang.

Das Projekt betont die alltägliche Steuerung der Sinneswahrnehmung, welche über das Visuelle hinausreicht. Diese Steuerung beinhaltet eine Reihe zielgerichteter Tätigkeiten, aber auch interagierende Menschen, Räume, Objekte, Materialien, Technologien und die nicht-visuelle Infrastruktur, welche in das Gebäude integriert ist. Das Projekt zeigt auf, wie diese Steuerung sowohl die Grundlage für die Innenräume bildet, als auch diese fortan aufrechterhält. Es legt auch dar, wie die Steuerung zwischen diverser Nutzung und diversem Status in verschiedenen Bereichen unterscheidet, wobei gewisse Nutzer*innen – oder Elemente ihres Alltages – inkludiert werden, andere wiederum durch Faktoren wie körperliche Eigenschaften und Einschränkungen, Geschlecht oder ihr tieferer Stand in sozio-kulturellen Hierarchien, benachteiligt werden. Das Projekt versucht unter anderem folgende Hauptfragen zu beantworten: Wie beeinflusst die Steuerung der nicht-visuellen Empfindungen die Wahrnehmung des Innenraums von Nutzer*innen? Wie beeinflusst diese Steuerung die Nutzer*innen selbst und umgekehrt? Was sind die Effekte dieser Interaktion auf Ebene der Praxis und in soziokultureller Hinsicht

?Diese neuartige Geschichte der Architektur der Moderne, welche das Projekt bietet, kann nicht auf der visuellen Herangehensweise aufbauen, welche das herkömmliche Verständnis von Gebäuden in der Architekturgeschichte prägt. Durch den bisherigen Visualitätsbias der Architekturgeschichte wurden andere Bereiche, in welchen Gebäude auch relevant wären, vernachlässigt und eine Mystifizierung der Verbindung zwischen Technologie und menschlicher Aktivität im Innenraum ist entstanden. Dabei kommt es zur Marginalisierung einer Reihe massgeblicher Einflussgrössen in der Gestaltung und Funktionsweise von Architektur. Das Projekt fördert die zu wenig untersuchten Bereiche der Architekturgeschichte, generiert ein neues Model von architektonischer Analyse und bietet eine Darstellung eines breiten Spektrums von Innenräumen in der Wahrnehmung von unterschiedlichen Nutzer*innen. Dadurch wird ein inklusiveres Verständnis der architektonischen Nutzer*innen und was den Innenraum für einzelne Personen ausmacht, entwickelt und die verschiedenen Akteure in der Geschichte von Gebäuden und Infrastrukturen einbezogen. Durch diese Adressierung der über das Visuelle hinausgehenden Wahrnehmung von Material und Technologie, zusammen mit breiten kulturellen Problemen im Kontext des Interieurs, steuert das Projekt die Architekturgeschichte weg von der Kunstgeschichte und ihrer visuellen Ausrichtung hin zu sozialen Wissenschaften, wie Psychologie, Soziologie und Anthropologie.

Als übergreifendes Ziel zeigt das Projekt auf, wie die nicht-visuelle Herangehensweise relevant ist, um Innenräume – von einfach bis komplex – besser zu analysieren und zu verstehen. In der ersten Phase wird dazu die Erfahrung von Nutzer*innen in nicht-visuellen Räumen untersucht: dunkle Räume und ihre Wahrnehmung durch nicht-visuelle sinnliche Modalitäten. Diese Untersuchung beschäftigt sich mit der Analyse von europäischen Fallstudien vom Zweiten Weltkrieg, bei welchen es um das Phänomen des Wohnens und der Aneignung von unterirdischen Stadtkammern und Passagen geht – zum Beispiel Keller und Abwassersysteme – um dort zu wohnen, zu verweilen und sich sicher von Ort zu Ort zu bewegen.

Ein Projekt der NOMIS Foundation

 


Kontakt

Dr. Anna Myjak-Pycia
Dozentin am Departement Architektur
  • HIL E 64.3

Professur für Architekturtheorie
Stefano-Franscini-Platz 5
8093 Zürich
Schweiz

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